Rekordfahrt mit E-Motorrad – Aber tut das Not?

Verge stellt mit der TS Pro einen Reichweitenrekord auf – 310 km Stadtverkehr mit einer Akkuladung. Beeindruckend, aber eigentlich wenig überraschend.

Ein glorreicher Tag für die gesamte Gemeinde der E-Motorradfahrer! Endlich kann alle Welt sehen, dass Elektromotorräder ihren Verbrenner-Kollegen in puncto Reichweite in nichts nachstehen – zumindest nicht im Stadtverkehr.

Ein Weltrekord für die Elektrozukunft

Die Jungs und Mädels des finnischen E-Motorrad-Herstellers Verge haben ihre TS Pro am 22. März 2025 auf eine Rekordfahrt geschickt. Und zwar hochoffiziell – unter den Augen von Vertretern des Guinness-Buchs der Rekorde, dem inoffiziellen Verwalter aller Weltrekorde, so großartig oder schrullig sie auch sein mögen.

Es ging um nicht weniger als die längste Fahrt eines E-Motorrads mit einer einzigen Akkuladungim echten Leben. Als Ort der Veranstaltung wurde London ausgewählt. Auf einer vorher festgelegten Strecke durch die Londoner Vororte fuhren Sam Clarke und Sara Sloman das 245 kg schwere E-Motorrad ohne zwischenzeitliches Nachladen 190 Meilen bzw. 310 Kilometer weit. Am Ende zeigte der Akku sogar noch 7 % Restladung an. Es gibt eine Menge Verbrennungsmotorräder da draußen, die im Stadtverkehr mit einer Tankfüllung deutlich keine 300 km schaffen. Der Weltrekord jedenfalls wurde offiziell bestätigt.

Technik, die beeindruckt – aber nicht überrascht

Ein tolles Ergebnis also. Aber eines, das niemanden überrascht, der sich ein wenig mit der Materie auskennt. Zunächst: Die Verge TS Pro hat eine Akkukapazität von 20,2 kWh brutto. Das ist eine ordentliche Größe. Da Energica nicht mehr im Geschäft ist, gibt es aktuell nur ein Motorrad auf dem Markt, das einen größeren Akku hat – und das kommt auch noch aus dem selben Hause: Die Verge TS Ultra schiebt sogar 21,8 kWh durch die Gegend.

Ideale Bedingungen für einen Reichweitentest

Motorräder sind allgemein eine aerodynamische Katastrophe. Da kommt der Stadtverkehr mit seinen geringen Geschwindigkeiten natürlich als ideales Testfeld daher: Für 310 Kilometer benötigte das Zweierteam trotz „Schichtbetrieb“ immerhin 16 Stunden – also eine Durchschnittsgeschwindigkeit von nicht einmal 20 km/h. Klingt nach wenig, ist es aber nicht unbedingt. Zum Vergleich: Auf meinem morgendlichen Weg zur Arbeit benötige ich im Berliner Stadtverkehr in der Regel für rund 30 km eine Stunde. Auch auf dem Rückweg ändert sich diese Zeit nicht wesentlich. Nun kenne ich die Londoner Verhältnisse nicht, aber da der Test an einem Samstag stattfand und sich über den gesamten Tag und die halbe Nacht hinzog, ist davon auszugehen, dass dichter Berufsverkehr nur einen untergeordneten Einfluss auf den Test hatte. Also wird die gefahrene Geschwindigkeit recht gering gewesen sein – was deutlichen Einfluss auf die Reichweite hat.

Ein zusätzlicher Vorteil von Elektrofahrzeugen ist die Rekuperation – das heißt, die Umwandlung von Bewegungsenergie in elektrische, um das Fahrzeug abzubremsen. Herkömmliche Bremsen machen Ähnliches, nur wandeln sie die Bewegungsenergie in (nutzlose) Wärmeenergie um. Beim ständigen Anfahren und Abbremsen im Stadtverkehr können Elektrofahrzeuge also zusätzliche Verbrauchsvorteile gegenüber ihren Verbrenner-Pendants ausspielen, die bei solch niedrigen Geschwindigkeiten oftmals gar nicht wissen, wo sie mit der überschüssigen Wärme hin sollen.

Verbrauchswerte im realistischen Rahmen

Während E-Motorräder der 125er-Klasse teilweise nur um die 4 kWh auf 100 km benötigen (und dabei allerdings auch deutlich weniger Gewicht mit sich herumschleppen), ist für ein E-Motorrad mit einer Vierteltonne Gewicht ein Verbrauch von etwa 6 kWh/100 km durchaus üblich. Die Wetterbedingungen waren übrigens einigermaßen mild (13–17 °C, trocken, wenig Wind).

Wer dies alles weiß, den überrascht das Ergebnis nicht. Im Gegenteil: Es wäre erstaunlich gewesen, wenn die Maschine keine 300 km geschafft hätte. So gut, so unkompliziert.

Die Show um die Selbstverständlichkeit

Und jetzt kommt Verge: Anstatt diese vollkommen unspektakuläre und trotzdem wichtige Erkenntnis – dass sich E-Motorräder hervorragend für die Stadt eignen – hervorzuheben und dabei auch die Einfachheit und Mühelosigkeit dieser souveränen Leistung zu zeigen, wird ein Video produziert, in dem man sich als Zeuge einer Grenzerfahrung wähnt. Im Long-Way-Round-Style, mit Begleitfahrzeugen und inklusive Unterstützung des britischen Gegenstücks zum ADAC, wird ordentlich Spannung und Reichweitenangst erzeugt – und die ganze Fahrt zum Husarenstück erklärt.

Okay. Klappern gehört zum Handwerk. Aber wieso muss der Eindruck erweckt werden, dass eine solche Fahrt etwas so Besonderes ist? So ungewiss, dass es nicht ohne Begleitfahrzeug geht? Soll das Verbrennerfahrer animieren, jetzt auf Elektro umzusteigen? Sollte man diese hervorragenden Fahrleistungen nicht besser als das darstellen, was sie sind: Eine vollkommen normale Sache für ein solches Motorrad. Etwas, über das man sich keine Gedanken machen muss – und das man nicht sonderlich vorbereiten muss? (Außer vorher den Akku zu füllen, versteht sich.)

SteckerBiker-Fazit: Elektromotorräder sind längst alltagstauglich

Ich jedenfalls finde den hier gezeigten Ansatz eher unglücklich. Trotzdem gratuliere ich Verge zum erreichten Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde und zu dem tollen Motorrad, das diesen Eintrag möglich gemacht hat. Ich wünsche mir, möglichst viele davon auf den Straßen zu sehen. Denn Elektromotorräder sind aktuell zwar noch kein gleichwertiger Ersatz für Motorräder mit Verbrennungsmotor – aber das müssen sie auch nicht sein. Sie haben ihre eigenen Stärken und Schwächen und sind daher eine wunderbare Ergänzung. Und mit der fortschreitenden Technik werden sie immer besser. Vielleicht werden sie die Verbrenner eines Tages wirklich ersetzen – wer weiß das schon? Aber es wird nicht heute und auch nicht morgen sein. Aktuell sollten wir uns eher darauf konzentrieren, wie normal E-Motorräder jetzt schon sind. Auch die von Verge.

Liege ich falsch? Übersehe ich etwas? Was meint ihr? Schreibt es gerne in die Kommentare.

Link zum Hersteller: 

https://www.vergemotorcycles.com/de_de/

Link zum Video der Rekordfahrt:

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